Diagnosen - Nein, danke!
Diagnosen sind Schubladen, in denen man es sich bequem machen kann. Wenn Ihnen die Schublade zu eng wird oder Ihnen verständlicherweise nicht behagt, öffnen Sie sie durch einen einzigen Klick auf die Schubladen...
Kurz: Jeder Mensch ist verschieden. Jede Erkrankung hat ihre eigene, individuelle Geschichte. Darum kann ein und dieselbe Diagnose niemals für 10, 100 oder 1.000 Menschen gelten. Jedes lebendige System, also auch der Mensch, ist veränderbar und organisiert sich selbst immer wieder neu.
Ausführlich: Als die American Psychiatric Association im Mai 2008 die Namen der Autoren der Neuauflage des DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Bd. 4), die amerikanische Version der deutschen klinisch-diagnostischen Leitlinien „Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V (F)“ bekannt gab, wurde deutlich, dass mehr als die Hälfte der Autoren ebenfalls als Redner und Gutachter für Pharmafirmen unterwegs waren und teilweise auch Studien für Firmen durchführten. So bezog z.B. der Leitautor des DSM-IV dreizehn zusätzliche Gehälter aus der Pharmaindustrie. Von ‚Disease Mongering’, also der ‚Krankheitserfindung’, war die Rede.
Ich hatte den Artikel im Deutschen Ärzteblatt zwar gelesen – doch manchmal scheint Amerika weit weg zu sein... Als ich dann im Oktober 2008 auf dem Deutschen Schmerzkongress war, hatte ich das Gefühl, auf einer großen Pharmamesse zu sein. In der Mitte laut, bunt und schrill die Big Pharmaindustrie, die mit kleinen Geschenken, kostenlosen Getränken und Snacks und vereinzelt mit wenig bekleideten jungen Frauen warben, und außen herum, in den überfüllten, kleinen Räumen, die sog. „Mietmäuler“ (alles renommierte Ärzte), die über Krankheiten referierten und gleich das passende Medikament anpriesen – natürlich unter den streng überwachenden Augen und Ohren des jeweiligen Pharmakonzerns. Die Interessenskonflikte müssen in Deutschland noch nicht angegeben werden. Als ich dann noch von dem Skandal hörte, dass ein bekannter dt. Facharzt auch noch über angebliche Studien berichtete (und Medikamente anpries), die nie durchgeführt wurden, sondern frei erfunden waren, auf die sich aber wiederum viele Mediziner beriefen, wuchs mein Bedürfnis, kritische Vorträge zur Gesundheitspolitik zu halten (s. Vorträge Archiv).
Ganz zu Schweigen von der Alltagsrealität in Kliniken, in denen ein und derselbe Patient verschiedene Diagnosen erhält – je nach Blickwinkel oder Vorliebe des Behandlers – aber anhand derer sie sich wiederum mit der Verordnung von Medikamenten orientieren. Jeder Behandler, der mit der Krankenkasse abrechnen will, muss aber eine Diagnose stellen, nur, dass aus den Augen der „Gesundheitskassen“ nicht alle Diagnosen aus dem ICD-10 V behandlungsrelevant sind. Mit anderen Worten, wird die Klinik/der Behandler u.U. darauf hingewiesen und aufgefordert, die Diagnose zu ändern, da sonst die Kosten für die Behandlung nicht übernommen werden würden. So stand einmal mein ehemaliger Chefarzt in meinem Behandlungszimmer, und bat mich, doch eher aus der Kategorie F3. ("Affektive Störungen") eine Diagnose zu wählen, als aus F4. (Neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen) weil die Krankenkasse sonst nicht zahlen würde (soweit zum Depressions-Boom). So war ich gezwungen, aus dem Klienten einen Patienten zu machen, also kranker als er war.